Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.

(1. Korinther 16,14– Jahreslosung für das Jahr 2024)

Zu den Fragen, die ich in meinen Prüfungen unserer Taufbewerber immer wieder stelle, gehört immer auch die Frage: „Was ist das Wichtigste im christlichen Glauben?“ Und immer wieder höre ich dann als erste Antwort das Wort: „Mohabat“ - auf Deutsch: Liebe! Ja, das ist etwas, was wir uns hier in Deutschland immer wieder nur schlecht vorstellen können, dass mir Menschen berichten, dass sie erst hier bei uns in der Kirche in ihrem ganzen Leben so etwas wie „Liebe“ erfahren haben. Geliebt zu sein, Liebe zu empfangen - das war für sie bisher etwas ganz Fremdes. Kein Wunder, dass sie dann diese Liebe nachgerade überwältigt, wenn sie sie hier in unserer Gemeinde auch noch in solcher Intensität erleben. Und doch reagiere ich auf die Antwort „Liebe“ auf meine Frage nach dem Wichtigsten im christlichen Glauben immer wieder so, dass ich sage: Das ist ganz richtig und ganz falsch - je nachdem, wie Du es mir nun weiter erklärst. Wenn Liebe in erster Linie als eine moralische Forderung verstanden wird, geradezu als eine Überbietung anderer moralischer Forderungen, dann wird die Antwort völlig falsch. Und wenn Liebe eigentlich nur darin besteht, dass man nett zueinander ist, dann braucht man dazu auch nicht den christlichen Glauben. Das kann man auch fertigbringen, wenn man überhaupt nicht an Gott glaubt. Richtig wird die Antwort „Liebe“ nur dann, wenn zunächst und vor allem von Gottes Liebe gesprochen wird, von der Bewegung dieser Liebe von Gott auf uns Menschen zu, die uns erreicht in seinem Sohn Jesus Christus und die uns gerade so dann auch verwandelt und erneuert, uns zu einer Liebe befähigt, die eben noch einmal etwas ganz anderes ist als bloß der Slogan „Seid nett zueinander!“

Acryl von U. Wilke-Müller
(c) GemeindebriefDruckerei.de

Das Bild von Ulrike Wilke-Müller zur Jahreslosung des neuen Jahres 2024 bringt genau dies in einer ganz wunderbaren Weise zum Ausdruck: Wenn wir auf das Bild schauen, dann springt uns da zunächst einmal ein Herz ins Auge. Ja, das Herz ist ein Ausdruck für Liebe, so wissen es auch die, die sich mittlerweile daran gewöhnt haben, im Wesentlichen mithilfe von Emojis zu kommunizieren. Doch ein richtiges Liebes-Herz muss doch eigentlich rot sein. Grüne Herzen sehen längst nicht so schön romantisch aus. Doch das Herz, das Ulrike Wilke-Müller gemalt hat, ist grün - darin kommt ein Doppeltes zum Ausdruck: Zum einen ist Grün die Farbe des Geschaffenen, die Farbe dieser irdischen Welt. Ja, als Menschen, die von Gott geschaffen worden sind, können wir grundsätzlich lieben und tun es auch. Liebe gibt es in ganz vielfältiger Gestalt in dieser Welt, auch weit außerhalb der Grenzen des christlichen Glaubens. Eltern lieben ihre Kinder, Kinder lieben ihre Eltern, Menschen verlieben sich in andere Menschen, sind dazu bereit, für diese Liebe alles, was sie haben, aufzugeben. Aber Grün ist auch die Farbe des Neides, der Selbstsucht. Die von Gott so gut geschaffene Welt ist nicht mehr so gut, wie er sie gewollt hat: Wir Menschen haben uns von Gott abgewandt, kreisen nur um uns selber und werden in diesem Sinne grün; ja, auch all unsere menschliche Liebe ist von diesem Grün der Selbstsucht infiziert, dass Menschen auch in ihrer Liebe letztlich immer wieder sich selber suchen. Doch nun sehen wir hier auf diesem Bild eine eindrucksvolle Bewegung: Von oben herab bricht jede Menge leuchtendes Rot-Orange herein - eine Bewegung, die wie ein Trichter auf das grüne menschliche Herz zielt. Diese leuchtende Rot-Orange bringt die Liebe Gottes zum Ausdruck, die gerade nicht sich selbst, sondern nur uns sucht, die frei ist von aller Selbstsucht, eine Liebe, die auch nicht geschaffen ist, sondern so ungeschaffen wie Gott selbst, der in seinem Wesen Liebe ist. Gewiss, immer schon war unser grünes menschliches Herz von den liebevollen Händen Gottes umfangen, der sich ganz tief hinein in unsere Schöpfung begeben hat und uns tagtäglich in Liebe mit dem versorgt, was wir brauchen. Aber das Bild macht eindrücklich deutlich, dass es da noch eine ganz andere Liebe gibt, die sich auf uns hinbewegt. Ja, darum geht es im christlichen Glauben, so lernen es unsere Taufbewerber schon in der ersten Unterrichtsstunde: Nicht wir bewegen uns auf Gott zu, sondern Gott bewegt sich auf uns zu in einer großen Bewegung der Liebe. Und diese Bewegung der Liebe lässt sich festmachen am Kreuz, das im Zentrum dieses Bildes steht und in dem diese rot-orange Liebe Gottes unser menschliches Herz ganz konkret erreicht, gleichsam wie eine Infusion. Durch Gottes Liebe wird unsere menschliche Liebe noch einmal verwandelt, vertieft, oft genug auch überhaupt erst ermöglicht. Wenn man genau hinschaut, sieht man rechts neben dem Seitenarm des Kreuzes einen Kelch, in dem das Grün in das Orange übergeht: Wie im Sakrament das Irdische durch Christi leibhaftige Gegenwart durchglüht wird, so durchglüht und verwandelt Gottes Liebe unser geschaffenes Herz, unsere irdische Liebe.

Aber dann blicken wir auf dem Bild nach oben - und sehen zugleich eine ganz andere Realität, doppelt so groß wie das Elend im unteren Drittel des Bildes: Der Himmel tut sich über Hagar auf, vom dunklen Blau am oberen linken Bildrand bis hin zum hellen warmen Gelb oberhalb von Hagar. Das helle, warm-gelbe Licht oberhalb von Hagar geht aus von einer Gestalt, die über Hagar schwebt. Die Gestalt ist geradezu durchsichtig, man kann durch sie auch gleichsam hindurchsehen und dann doch wieder nur die bergige Wüste sehen. Doch diese Gestalt, der Bote Gottes, umfängt Hagar mit seiner Gegenwart, mit seinem Licht, so sehr, dass die beiden gleichsam eins werden: Gott bleibt nicht auf Distanz, er kommt Hagar ganz nahe. Gekennzeichnet ist der Bote Gottes durch zwei Flügel, die sich schützend über Hagar ausbreiten. Der rechte der beiden Flügel ragt dabei aus dem Bild heraus, hinein in unsere Gegenwart: Der, der damals Hagar gesehen hat, ist auch bei uns heute, sieht auch uns in unserer Not. Er blickt auch uns an aus diesem Bild, will auch uns zu der tröstlichen Erkenntnis führen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

In der Formulierung aus der römisch-katholischen Einheitsübersetzung, die als Text für die Jahreslosung ausgewählt wurde, heißt es: „Alles, was ihr tut“. Klingt schön - steht aber leider so nicht im griechischen Text. Da heißt es wörtlich übersetzt nur: „Alles von euch geschehe in Liebe.“ Also nicht nur unser Tun, sondern auch unser Reden, unser Schweigen, unsere ganze Lebenshaltung. Nein, das ist keine Riesenforderung, die an uns gerichtet wird, sondern eine Ermutigung: Lebt immer wieder aus diesem Geschehen, dass Gottes Liebe euch erreicht, wenn ihr die Worte seiner Liebe hört, wenn ihr den Leib und das Blut Christi empfangt, aus Liebe für euch gegeben und vergossen. Dann wird sich in eurem Herzen etwas verändern, dann werdet ihr anders leben können. Dass auch Sie von dieser rot-orangen Liebe Gottes im neuen Jahr immer wieder angerührt werden, wünscht Ihnen