St. Johannes 11, 1-3.17-27.41-45 |16. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Zu spät zu kommen ist doch eigentlich gar nicht so schlimm. Das ist eine Einstellung, die auch viele Glieder unserer Gemeinde teilen und praktizieren: Das Orgelvorspiel und die ersten Lieder muss ich ja nicht auch schon alle miterleben; mir bleibt immer noch genug vom Gottesdienst, auch wenn ich erst irgendwann mittendrin einmarschiere.

Zu spät zu kommen ist doch eigentlich gar nicht so schlimm. Gerade heute gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich Dinge, die man live verpasst hat, später noch mal anzuschauen. Wenn ich beim Fußballspiel erst nach dem entscheidenden Tor reingeschaut habe, kann ich sicher später im Internet mir das alles noch mal vergegenwärtigen. Wieso sollte man sich da so viel Stress machen und sich bemühen, immer pünktlich zu sein?

Es gibt allerdings Augenblicke im Leben, da kann es schon ärgerlich sein, zu spät zu kommen. Ich erinnere mich an eine Hochzeit, die ich zu halten hatte. Sie sollte nicht in unserer schlichten Dreieinigkeitskirche stattfinden, sondern in einer der großen, berühmten Kirchen unserer Stadt. Nur hatte die Hochzeitsgesellschaft leider vergessen, dass es in der Nähe der Kirche keine Parkplätze gab. Als der Traugottesdienst starten sollte, war von der Hochzeitsgesellschaft nichts zu sehen. Das Brautpaar kam einige Minuten später angehetzt; wir mussten anfangen, weil danach noch eine Trauung anstand. Kurz vor dem Schlusslied stürzten dann schließlich auch die Brauteltern in die Kirche. Doch die Hochzeit ihrer Tochter hatten sie verpasst – zu spät.

Zu spät – wie schmerzlich dies sein kann, erfahren wir nirgendwo so deutlich wie angesichts des Todes eines geliebten Menschen. Da merken wir: Es geht danach nicht doch noch irgendwie weiter. Jetzt kann ich mit diesem Menschen nicht mehr sprechen, kann auch nichts mehr ausräumen und in Ordnung bringen, was zwischen uns gestanden hat. Jetzt kommt nichts, aber auch gar nichts mehr von diesem Menschen; jetzt lässt sich nichts mehr rückgängig machen und noch mal neu abspielen. Und natürlich gehen einem dann auch die Gedanken durch den Kopf: Hätte man nicht vielleicht doch vorher noch etwas unternehmen können, bevor es nun zu spät ist, hätte man dieses „zu spät“ nicht doch noch irgendwie verhindern können? Und schnell gehen die Gedanken dann auch weiter: Warum hat Gott dieses „zu spät“ nicht verhindert, warum war er nicht rechtzeitig da, warum hat er nicht eingegriffen, als es noch möglich war? Dass man jetzt, nach dem Tod, nicht von Gott erwarten kann, dass er den Menschen, der gestorben ist, plötzlich wieder aufstehen lässt, ist ja klar. So naiv sind wir dann doch auch wieder nicht.

Im Heiligen Evangelium des heutigen Sonntags haben wir es auch mit einem Menschen zu tun, der ganz offenkundig zu spät kommt, viel zu spät kommt. Als Jesus die Nachricht erhält, dass sein Freund Lazarus schwer erkrankt ist, hätte er sich noch rechtzeitig auf den Weg machen können, hätte ihn noch rechtzeitig heilen, ihm das Sterben ersparen können. Doch stattdessen bleibt er erst noch einmal zwei Tage an dem Ort, an dem er sich aufhielt. Dann zieht er in aller Gemütsruhe los – und als er dann schließlich in Betanien ankommt, trifft er ganz offensichtlich viel zu spät ein. Das sagte einem nicht nur der Verstand, das sagte einem schon der Geruchssinn: „Herr, er stinkt schon, denn er liegt seit vier Tagen.“ Bis zum dritten Tage nach dem Tod eines Menschen glaubte man damals immer noch darauf hoffen zu können, dass vielleicht ein Wunder geschieht und dieser Mensch zu einem neuen Leben auferweckt wird. Aber am vierten Tag ist alles, wirklich alles zu spät. Wenn die Verwesung erst einmal eingesetzt hat, macht eine Auferweckung nun wirklich keinen Sinn mehr.

Jesus kommt zu spät – und die beiden Schwestern des Lazarus reiben ihm das auch nacheinander sehr deutlich unter die Nase: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben! Konntest du denn nicht ein bisschen pünktlicher sein? Dann wäre das alles nicht passiert! Und dann fließen die Tränen – bei Maria, bei den Freunden der Familie und schließlich sogar auch bei Jesus selbst. Der weint auch, als er ans Grab des Lazarus tritt. Was für eine bewegende Bemerkung hier in unserer Erzählung, die leider aus der Kurzzusammenfassung, die wir eben im Heiligen Evangelium gehört haben, herausgelassen worden ist: Auch Jesus weint angesichts des Todes eines geliebten Menschen, weint über das Leid, das dieser Tod anrichtet, weint über diese Erfahrung des „zu spät“, das Menschen nun angesichts dieses Todes machen.

Schwestern und Brüder: Wir werden diese Geschichte, die uns St. Johannes hier erzählt, nur sehr begrenzt verstehen können, wenn wir nicht selber diese schmerzliche Erfahrung des „zu spät“ angesichts des Todes eines geliebten Menschen gemacht haben, wenn wir nicht selber wie Jesus und mit Jesus über den Tod eines geliebten Menschen geweint haben. Der Tod eines Menschen ist nichts Normales, nichts Natürliches, nichts, was einfach irgendwie nun mal zum Leben mit dazugehört. Der Tod eines Menschen ist zum Heulen, gar keine Frage. Und wenn man dann noch nicht einmal die Gelegenheit dazu hat, von diesem Menschen persönlich Abschied nehmen zu können, wie es viele unserer Schwestern und Brüder aus dem Iran und Afghanistan erleben, wenn ein Familienmitglied in ihrer Heimat stirbt, dann schmerzt dieser Tod noch einmal ganz besonders.

Doch die Geschichte von dem verstorbenen Lazarus endet eben nun nicht einfach in einem Meer von Tränen, endet nicht mit der Feststellung, dass Jesus nach menschlichem Ermessen einfach nicht schnell genug geholfen hat. Sie endet auch nicht mit einer vagen Hoffnung, dass der Verstorbene ja vielleicht doch irgendwie in den Gedanken seiner Lieben oder irgendwo oben auf einem Wölkchen weiterleben wird. Sondern sie endet mit der Schilderung einer Auferweckung eines Verstorbenen, nachdem jede, aber wirklich jede menschliche Hoffnung an ihr Ende gekommen ist. Während die Menschen schon längst den Stein vor das Grab gerollt haben, bleibt der verstorbene Lazarus für Jesus noch ansprechbar: Jesus ruft ihn, und das Wort erreicht ihn, erweckt ihn zu neuem Leben. Jesus ist eben doch nicht zu spät gekommen.

Schwestern und Brüder: Während wir die Trauer von Maria und Martha, während wir die Tränen Jesu am Grab des Lazarus gut nachvollziehen können, haben wohl die wenigsten von uns miterlebt, dass jemand, der schon vier Tage verstorben war, wieder aus seinem Grab herauskommt. Gewiss, es gibt Gruselfilme, in denen so etwas gezeigt wird – aber alle, die sich diese Filme anschauen, wissen: Das ist nur gut gemachte Unterhaltung, das hat mit der Realität nichts zu tun.

Doch was St. Johannes hier schildert, ist kein Science fiction, ist Realität, die uns verweist auf das, was uns bevorsteht. Ach, in Wirklichkeit haben wir es doch viel besser als der Lazarus: Der arme Lazarus gehört zu den wenigen Menschheitsexemplaren, die in ihrem Leben zweimal sterben mussten. Das Leben, zu dem Jesus ihn auferweckte, war noch kein neues Leben, sondern in der Tat nur die Rückkehr in das alte. Wenn unser Leib irgendwann einmal in die Erde gelegt wird, dann dürfen wir wissen: Christus wird auch einmal an unser Grab herantreten und rufen: Komm heraus! Und wir werden herauskommen, selbst wenn chemisch-physikalisch von uns schon nichts mehr übriggeblieben sein sollte. Für Jesus gibt es kein „zu spät“. Und wenn er uns dann aus dem Grab herausrufen wird, dann werden wir keine reanimierten Leichen sein, erst recht keine Zombies. Dann werden wir von Christus in ein neues Leben hineingerufen werden, das endgültig keinen Tod und keine Verwesung mehr kennen wird.

Ja, das ist unsere Zukunft. Doch St. Johannes selber lenkt unseren Blick hier stärker noch auf die Gegenwart. Die Auferstehung – sie liegt eben nicht einfach bloß vor uns. Wir haben sie schon jetzt und hier, tragen sie in uns. Denn unsere Auferstehung ist nicht einfach ein natürlicher Prozess, der sich nach dem Tod nun mal an jedem Menschen vollzieht. Sondern unsere Auferstehung hat einen Namen, ist eine Person: Jesus Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Anteil an der Auferstehung, Anteil an dem neuen Leben, das stärker ist als der Tod, bekommst du einzig und allein, wenn du mit ihm, Jesus Christus, verbunden bist, wenn du mit ihm eins wirst, oder, mit den Worten Jesu selber: wenn du an ihn glaubst.

Jawohl, hier und jetzt wird deine Auferstehung schon Realität. Sie wurde heute Morgen Realität bei dem kleinen Benjamin, als er im Wasser der Heiligen Taufe mit Christus verbunden und zum ewigen Leben wiedergeboren wurde. Sie wurde Realität, als auch du Christus angezogen hast in deiner Heiligen Taufe. Und wenn der, der die Auferstehung und das Leben ist, nun gleich im Heiligen Mahl wieder in dir Wohnung nimmt mit seinem Leib und Blut, dann darfst du gewiss sein: Ich trage die Auferstehung, ich trage das ewige Leben in mir, das Heilmittel der Unsterblichkeit, ihn, Christus, der schon hier und jetzt am Altar Größeres an mir tut, als er damals an Lazarus getan hat.

Ja, denke daran: Christus kommt in Wirklichkeit niemals zu spät. Und wenn du einmal auf deinem Sterbebett liegst, dann sei gewiss: Du wirst nicht vergeblich auf ihn warten. Er lebt schon in dir, trägt dich hindurch durch das Dunkel des Todes. Ja, wenn du einmal hier auf Erden für immer die Augen schließt, dann darfst du gewiss sein: Es ist nicht Schluss. Da kommt noch was, so gewiss du getauft bist, da kommt dein Herr, allemal rechtzeitig genug. Ja, wenn du stirbst, darfst du dich schon auf das Nächste freuen, darauf, die Stimme deines Herrn zu hören: „Komm heraus!“ Amen.

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