Apostelgeschichte 16,23-34 | Kantate | Pfr. Dr. Martens

Da sitzen sie ganz tief drinnen im Gefängnis in Philippi, ausgepeitscht und in einen Block gezwängt, ein besonders widerliches Werkzeug bei der Inhaftierung von Gefangenen, bei dem die Füße so fixiert werden, dass die Betreffenden nicht mehr aufrecht sitzen konnten und andauernd Schmerzen hatten. Eigentlich war es rechtsstaatlich gar nicht erlaubt, dass Paulus und Silas dort eingesperrt waren. Sie waren römische Bürger und durften überhaupt nicht so behandelt werden. Doch als die Volksmenge draußen sich genügend laut empört hatte, sah man bei den politisch Verantwortlichen über die Frage der Rechtsstaatlichkeit einmal ein wenig großzügig hinweg. Hauptsache, die besorgten Bürger auf der Straße bekamen, was sie wollten.

Ach, wie viele von euch können sich gut in die Situation von Paulus und Silas hineinversetzen! Wie viele von euch haben selber schon im Gefängnis gesessen – nicht, weil sie irgendwelche Verbrechen begangen hätten, sondern weil sie dem Staat, in dem sie lebten, mit ihren Ansichten nicht passten, weil sie für eine Bedrohung des Staates gehalten wurden – oder weil sie vielleicht tatsächlich sich das schwere Verbrechen hatten zuschulden kommen lassen, ein Flüchtling zu sein! Wie viele von euch haben selber schon ganz im Dunkeln in solch einem Gefängnis gesessen und nicht gewusst, ob sie da noch einmal herauskommen! Wie viele von euch wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, ausgepeitscht zu werden, was es heißt, gefoltert zu werden! Und wie viele von euch erleben auch jetzt wieder, wie sie hilflos der Willkür eines Staates ausgeliefert werden, der sich anmaßt, selber Glaubenswächter zu sein und über die Ernsthaftigkeit eures christlichen Glaubens Urteile fällen zu können – Urteile, die auch euch in Gefahr für Leib und Leben befördern!

Schwestern und Brüder, ich habe solche Erfahrungen noch nicht gemacht, die so viele von euch schon gemacht haben. Aber auch ich fühle mich in meiner Arbeit nicht selten so ähnlich wie Paulus und Silas da unten im Block, merke, wie meine Möglichkeiten, mich gegen das Unrecht in unserem Land noch zu wehren, immer weiter eingeschränkt werden, merke immer öfter, wie ein Staat, der nach außen hin behauptet, ein Rechtsstaat zu sein, immer willkürlicher reagiert und sich immer mehr von der Stimmung der Menschen auf der Straße treiben lässt. Ja, das tut weh, das schmerzt, dagegen so wenig machen zu können, gleichsam in den Block gesperrt zu werden. Da möchte man mitunter am liebsten resignieren, weil es ja doch alles keinen Zweck mehr hat.

Doch, gottlob, die Geschichte, die uns St. Lukas in unserer heutigen Predigtlesung erzählt, geht weiter. Nein, sie erzählt nicht von den Superhelden Paulus und Silas, die es schließlich doch noch geschafft haben, sich aus dieser furchtbaren Situation doch noch zu befreien. Sondern sie erzählt von Christus, der zu bewirken vermag, was wir Menschen von uns aus niemals könnten. Eine wunderbare Mutmachgeschichte ist es, die uns St. Lukas hier erzählt, mitten in unsere Verzagtheit, mitten in unsere Ohnmacht hinein, eine Mutmachgeschichte von Christus,

  • der Menschen im Gefängnis singen lässt
  • der verschlossene Türen zu sprengen vermag
  • der sogar die Herzen von Staatsbeamten zu bekehren vermag

 

I.

Was machen Paulus und Silas da unten im Gefängnis? Sie schreien nicht, sie protestieren nicht, sie rufen nicht: „Lasst uns hier raus!“ Aber sie resignieren auch nicht einfach. Sondern sie praktizieren einfach ganz selbstverständlich ihren Glauben: Sie halten, wie üblich, ihr Nachtgebet, beten um Mitternacht zu Gott und singen Lieder. Eingesperrt im dunkelsten Gefängnis, gequält durch den Block an ihren Füßen, beten und singen sie. Nein, das machen sie nicht, weil sie so große Glaubenshelden wären. Sondern das machen sie, weil Christus selber inmitten dieser Dunkelheit des Gefängnisses bei ihnen ist, weil er sie gerade dort singen lässt, wo nach menschlichem Ermessen doch gar kein Grund zum Singen besteht.

Ja, dieses Wunder ereignet sich bis heute immer und immer wieder, dass Christus Menschen zum Lob Gottes, zum Singen befähigt, die menschlich gesprochen dazu doch gar keinen Grund haben. Ich erlebe es hier in unserer Gemeinde, wie ich selber oft genug wütend und beinahe verzweifelt bin, wenn ich wieder einmal von einem unfasslichen Abschiebebescheid des Bundesamtes erfahre. Doch dann erlebe ich es, wie die Betroffenen selber mich trösten und darauf verweisen, dass Jesus das schon alles wieder in Ordnung bringen wird. Dann erlebe ich es, wie diese Menschen hier im Gottesdienst tatsächlich Loblieder singen, mit von Abschiebebescheiden gefesselten Füßen. Ja, solch eine Kraft hat Christus, unser Herr.

Singen lässt Christus die, die zu ihm gehören, überall auf der Welt – und gegen dieses Singen kommen die Diktatoren und Gefängnisaufseher dieser Welt einfach nicht an. Gesungen wird in den Hausgemeinden im Iran und in China, gesungen wird in den zerstörten Kirchen in Syrien und Irak, sobald Christen in sie wieder zurückkehren. Ich erinnere mich an ein russlanddeutsches Gemeindeglied, das mir davon erzählte, wie es mitten im Winter im Arbeitslager in Sibirien dazu gezwungen wurde, sich gemeinsam mit den anderen Barackenbewohnern mit der Matratze auf dem Kopf nachts draußen aufzustellen. Und was machten die Frauen dort mit den Matratzen auf ihrem Kopf? Gemeinsam sangen sie miteinander: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn!“ Auch der furchtbare Terror der kommunistischen Machthaber konnte sie nicht daran hindern, selbst in einer solch entwürdigenden Situation noch zu singen.

Singen wir darum auch viel und kräftig in unseren Gottesdiensten! Singen wir das Lob Gottes all denen entgegen, die unseren Gemeindegliedern ihren christlichen Glauben absprechen! Singen wir das Lob Gottes all denen entgegen, denen die Parolen auf der Straße mehr bedeuten als die Botschaft des gekreuzigten Christus! Ja, genau dazu will Christus uns selber immer wieder befähigen, nicht nur heute an diesem Sonntag Kantate!


II.

Und dann passiert das Unfassliche: Ein Erdbeben ereignet sich ausgerechnet zu dieser Stunde, sprengt die Türen des Gefängnisses auf, die doch scheinbar für immer verschlossen erschienen. Christus erweist seine Macht gerade dort, wo alle menschlichen Möglichkeiten an ihr Ende gekommen zu sein scheinen.

Ja, Christus will auch uns immer wieder dahin führen, dass wir erkennen, dass mit unserer Macht wahrlich nichts getan ist, dass wir gar bald verloren sind. Aber gerade da, wo wir nicht mehr weiterkönnen, wo alle Türen verschlossen zu sein scheinen, da fängt Christus erst gerade an.

Nein, Schwestern und Brüder, ich kann euch solche Befreiungsgeschichten in unserer gegenwärtigen Situation hier in unserer Gemeinde noch nicht erzählen. Die Anerkennungsquote der Glieder unserer Gemeinde beim Bundesamt verharrt weiterhin in diesem Jahr bei glatt 0,0%. Menschlich gesprochen sieht es bei uns tatsächlich so aus, dass wir gar bald verloren sind, dass die, die darauf aus sind, die christlichen Flüchtlinge hier aus Deutschland zu vertreiben, ihr Ziel tatsächlich zu erreichen scheinen. Doch wir dürfen auf den vertrauen, der auch damals Paulus und Silas aus völlig aussichtsloser Lage herausgeholt hat, der Erschütterungen hervorzurufen vermag, die wir selber nicht hervorrufen können. Ich habe das ja selber in diesen vergangenen Wochen und Monaten immer wieder versucht, auch in der Öffentlichkeit solche Erschütterungen zu erzeugen, habe gedacht, dass doch irgendwo einmal jemand aufmerken muss angesichts des Unrechts, das unseren Schwestern und Brüder hier in unserem Land zugefügt wird. Doch die Herzen der politisch Verantwortlichen, die Herzen auch derer, die die öffentliche Meinung beeinflussen, sind offenbar noch stärker verriegelt als die Gefängnistore für Paulus und Silas damals. Doch die, die jetzt noch frohlocken, sollen wissen: Christus lebt, er ist auferstanden. Er ist selber aus dem Gefängnis des Todes ausgebrochen, als dies völlig ausgeschlossen erschien. Singen wir darum weiter, bis Christus die Zeit kommen lässt, an dem er Türen öffnen wird, die uns jetzt noch verschlossen sind! Er ist und bleibt doch der lebendige Herr.


III.

Und dann passiert das vielleicht größte Wunder von allen: Christus bekehrt das Herz des Gefängniswärters, lässt auch ihn zum Glauben an ihn, den auferstandenen Herrn, finden.

Nein, Paulus und Silas sind nicht darauf aus, sich an dem Gefängniswärter zu rächen für das, was er ihnen zuvor angetan hatte. Sie hauen auch nicht einfach ab, sondern sie bleiben freiwillig im Gefängnis, sorgen sich um den Gefängniswärter und führen ihn gerade so schließlich zum Glauben an Christus und zur Taufe. Frühere Gefangene und der Gefängniswärter Seite an Seite an einem Tisch, gemeinsam als getaufte Christen das Mahl feiernd – was für ein wunderbarer Anblick, mit dem unsere Geschichte endet.

Ja, dieses Wunder erleben wir auch hier in unserer Gemeinde. Da sitzen auch in unserer Gemeinde Menschen, die früher noch auf der anderen Seite saßen, ja, auch frühere Gefängnisaufseher, Menschen, die früher auch an den furchtbaren Verhören von Christen im Iran beteiligt waren – und die mitunter gerade auch wegen des Verhaltens der Christen in dieser Situation die Seiten gewechselt haben, dabei nicht mehr mitmachen konnten, weil sie gemerkt haben: Diese Christen haben jemanden auf ihrer Seite, gegen den wir mit unseren Methoden einfach nicht ankommen. Ja, das ist für mich bewegend, dies zu erleben, wie solche Menschen Seite an Seite hier am Altar knien und den Leib und das Blut ihres Herrn empfangen: Die, die früher Vertreter des Staates waren, und die, die vor diesem Staat fliehen mussten. Dieses Wunder der Versöhnung kann wirklich nur Christus selber bewirken.

Und ihm wollen wir zutrauen, dass er nicht nur damals das Herz des Gefängniswärters wenden konnte, sondern auch heute noch die Herzen von Menschen, die jetzt noch für den Glauben der Glieder unserer Gemeinde nur Hohn und Spott übrighaben, ja selbst die Herzen von Politikern, die doch anscheinend nur auf das zu hören bereit sind, was die Stimmung auf der Straße ihnen nahelegt. Beten wir darum für die Bekehrung unserer Politiker und für die Bekehrung der Menschen, die jetzt noch unsere Schwestern und Brüder von ihren Schreibtischen aus in den Tod zurückbefördern möchten! Rufen wir zu Christus, dass er auch an ihnen bewirken möge, was er damals an dem Gefängniswärter von Philippi vollzogen hat! Und danken wir vor allem Christus immer wieder dafür, dass er an uns dieses Wunder schon vollzogen hat, dass er uns in der Taufe schon zum neuen Leben in der Gemeinschaft mit ihm wiedergeboren hat! Christus vermag das Leben von Menschen zu wenden – hundertfach sehen wir dieses Wunder auch heute Morgen hier in unserer Kirche wieder vor uns. Da können wir doch gar nicht anders als zu singen! Amen.

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